Im Gespräch
"Eine Fahne für Österreich"
16. 11. 2017 / Von Klaus Zeyringer
Armin Thurnher und Gerhard Ruiss bei Transflair über heimische Zustände, Hinter-Gründe und österreichische Aussichten

Ernst Jandls Gedicht eine fahne für österreich klingt heute wie ein Stoßseufzer: "rot / ich weiß / rot". Als im Jahr 2000 Schüssel und Haider die schwarz-blaue Koalition besiegelt hatten, klagte ein französischer Germanist vorwurfsvoll, die österreichischen Intellektuellen würden sich nicht äußern: Selten war eine groteskere Apperzeptionsverweigerung zu lesen.

In Essays und in sehr vielen Texten der Sprachkunst war Österreich intensiv präsent, historisch und aktuell, mit Gründen und Hintergründen. Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre bildeten sie praktisch ein eigenes Genre, von Peter Turrini und Josef Haslinger über Robert Menasse und Franz Schuh bis zu Karl-Markus Gauß. Gerade im Jahr 2000 erschien ein Sammelband unter dem Titel Über Österreich zu schreiben ist schwer, 1999 hatte Armin Thurnher sein Buch Das Trauma, ein Leben mit den Sätzen eingeleitet: "Über Österreich zu schreiben ist unerträglich. Zuviel ist geschrieben worden." Um am Ende des ersten Kapitels zu erklären: "Österreich entgeht man nicht."

Welche besondere Rolle spielen Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Autoren in Österreich, lautet eine Frage auf dem Podium der 61. Folge von Transflair. Wie schätzen sie die Zustände, die aktuelle Situation zur Zeit der "Sondierungsgespräche" zur Regierungsbildung der Kurz-ÖVP und der Strache-FPÖ ein? Wie sehen das so renommierte, wortmächtige Beobachter wie Armin Thurnher und Gerhard Ruiss (leider musste Karl- Markus Gauß in Spitalspflege und deswegen absagen)?

Kein Österreich-Buch mehr

Den Prolog seines neuesten Bandes Ach, Österreich mit dem Untertitel Europäische Lektionen aus der Alpenrepublik beginnt Thurnher mit den Sätzen: "Nie mehr wieder. Ich glaube, in jedem meiner Österreich-Bücher habe ich das Versprechen abgegeben, nie mehr ein Österreich-Buch zu schreiben." Derartige Essays seien "allesamt Besserungsversuche". 1994 veröffentlichte er Österreich neu. 12 Provokationen zu Themen der Zeit, 2000 Heimniederlage. Nachrichten aus dem neuen Österreich, 2013 Republik ohne Würde. Dazwischen, 2009, den Roman Der Übergänger, eine "Verfehlungsgeschichte". Um die Verehrung für den genialen Pianisten Alfred Brendel ausdrücken zu können, sucht das erzählende Ich Brendel zu begegnen; wegen der Tücken der Termine und Objekte vermögen jedoch Verehrer und Verehrter nicht zusammenzukommen und verfehlen sich stets. Der Roman ist eine Art Gegenstück zu Thomas Bernhards Glenn-Gould- Buch Der Untergeher.

Thurnher ist als Mitbegründer, Mitherausgeber, Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung Falter bekannt, seine kritischen Analysen sind hochgeschätzt. Sie sind pointiert, mit gewitzten rhetorischen Figuren versehen, wie das "Ceterum censeo" des Lateiners Cato, das über wohl zwanzig Jahre am Ende des Leitartikels ein "Im übrigen bin ich der Meinung, der Mediamil-Komplex muß zerschlagen werden" stellte. Und die Thurnhersche Wortschöpfung "Feschismus" ist in der gegenwärtigen politischen Situation wieder virulent geworden.

Tragödie oder Farce

Im 2016 erschienenen Ach, Österreich heißt es, die Probleme der Welt würden sich hier "brennpunktartig wiederfinden". In einem Rückgriff auf das bekannte Diktum von der kleinen Welt, in der die große ihre Probe hält, stellt der Band "Europäische Lektionen" vor - und die Frage nach dem Satz von Karl Marx: Ist es eine Tragödie, ist es eine Farce?

Bei Gerhard Ruiss ist es ein Gedicht, freilich recht zweischneidig: Soeben und zur rechten Zeit (auch dies zweischneidig) sind seine Kanzlernachfolgegedichte erschienen. Ruiss ist Mitbegründer und Geschäftsführer der IG Autorinnen Autoren, Schauspieler, Dramatiker, Poet, Musiker - dieses Jahr hat er eine CD mit der tollen Vertonung seiner Oswald-von- Wolkenstein-Lieder vorgelegt (in drei Bänden hat er dessen gesamtes erhaltenes Werk aus dem 14., 15. Jahrhundert nachgedichtet).

beide am selben strick

Ein Großereignis war der 1. Österreichische Schriftstellerkongress, den Ruiss 1981 hauptverantwortlich mitorganisiert hat. Sechs Jahre später war seine Poesie der Verknappung im Band Swingle Singers zu lesen, etwa soziale partnerschaft: "was denn / empört sich der henker / und zerrt fester / beim anblick / des auszuckenden gehängten: / schließlich / ziehen wir beide / doch am selben strick." Seither hat er zahlreiche Gedichtbände publiziert, im Sinne der Vormärz-Forderung: "Wer nicht die Kunst in unserer Zeit / weiß gegen die Zeit zu richten", möge lieber das Dichten lassen. Er, Gerhard Ruiss, weiß kunstvoll und politisch zu dichten, nun, zwölf Jahre nach seinen Kanzlergedichten, mit den Kanzlernachfolgegedichten 2006 - 2017. Anregungen und handelnde Personen finden sich im Band aufgelistet, von Schüssel bis Trump, von Gusenbauer bis Orbán, von Strache bis Putin, von Merkel bis Kurz. Die größeren und die kleineren Leuchten nimmt Ruiss bei ihren Wendungen und Redewendungen; so schafft er eine vielfältige Widerrede, eine hintergründige Abkanzlung.

In Ach, Österreich schreibt Armin Thurnher: "Was ist in Österreich wirklich los? Warum fragen wir uns das selbst nicht intensiv? Oder tun wir es und überhören die Fragen?" Auf dem Transflair-Podium sagt er: "Wir hatten ja eine Wahl, und ein verblüffendes Kennzeichen der Lage ist, dass alle nicht wissen, was los ist." Der künftige junge Kanzler habe mit seiner zur Bewegung mutierten Partei einen Wahlsieg errungen, indem er nicht gesagt habe, "was los ist" und auch nicht was los sein werde. Wie schon Josef Haslinger 1987 in Die Politik der Gefühle geschrieben hat, werde an Ressentiments und vor allem an den Nationalismus appelliert, aber die Situation werde nicht reflektiert, auch nicht Österreichs Position in Europa.

"Sie", ruft Ruiss ins Publikum, "erwischen uns beim Rätseln". Er sei ja begierig nach Information, allerdings werde uns nur mitgeteilt: Es gibt Geheimverhandlungen zur Regierungsbildung - "außer ein paar Werbebotschaften und Überschriften: nichts gefunden. Das sind nur Agenturtexte". Man merke jedoch nicht, welches die Veränderung sein solle: "Das ist das Repertoire, das immer da war." Ihn, wirft Thurnher ein, verblüffe die fehlende Verhältnismäßigkeit, dieses Gefühl des totalen Stillstands, der Abgesandeltheit; immerhin handle es sich trotz aller Probleme um eines der reichsten und privilegiertesten Länder der Welt.
Man könne doch stark vermuten, was los sei - dass sich nämlich die über ihre Koalition verhandelnden ÖVP und FPÖ überlegen, wie sie den Sozialstaat beseitigen könnten. Um das neoliberale Programm durchziehen zu können, musste eben der Sozialstaat als unerträglicher "Stillstand" dargestellt werden.
Von allen Seiten höre man die "Agentur-Phrasen", kritisiert Ruiss, der die politischen Worte beim Wort nimmt und darauf hinweist, was es bedeute, wenn vom "Heimatschutz-Ministerium" die Rede ist: eine Anbindung an die Erste Republik mit der Heimwehr. Zudem heiße es, "wir werden angegriffen, wir müssen uns schützen". Niemand erschrecke bei Bildern, die Soldaten vor Botschaften in Wien und Panzer vor dem Burgtheater zeigten. "Es werden Zeichen und Symbole von einem Zustand der Belagerung gesetzt, somit andere Lebensgefühle vermittelt, mit einem galoppierenden Verlust historischen Bewusstseins und kollektiver Lernfähigkeit."

Das "österreichische Problem" wurzle in der Habsburgermonarchie, geht Thurnher in die Geschichte zurück und erläutert die gesellschaftlichen Gründe heutiger Verhaltensweisen, alsbald eine Lektüreempfehlung betonend: Dem Publikum legt er dringend den großartigen kroatischen Autor Mirsolav Krleža ans Herz, da erfahre man eine andere Art der Geschichtsbetrachtung. Worauf Ruiss auf die "Zensurpetition" rund im Franz Grillparzer kurz vor 1848 verweist. Diese Haltung wirke bis heute, "da weiß man schon, warum es immer noch so viel Hinterzimmerpolitik gebe, warum so verdeckt geredet wird, warum Zivilcourage so schwach entwickelt ist". Zu den gerade laufenden Regierungsverhandlungen heiße es in den Medien nur, man könne eigentlich nichts sagen, weil nichts gesagt werde.

Was passiert demokratiepolitisch?

Was in der jetzigen Situation aus Kunst und Kultur werde? Ruiss betont, um Kunst und Kultur sei es ihm "nicht bang"; "wir sind seit 1995 mit diesen Auseinandersetzungen vertraut". Es werde nun zunehmend um Repräsentation gehen, unter verschärften Bedingungen. Die größere Frage sei: "Was passiert demokratiepolitisch". Auf Seiten der neuen Regierungsparteien, sagt Thurnher, bestehe schon ein Abrechnungs- und Aufholbedarf gegen eine vorgebliche, aber unrichtige "Hegemonie" linker Intellektueller. Es werde in einem zu erwartenden autoritären Neoliberalismus nach dem Beispiel Oberösterreich, wo ÖVP und FPÖ das Kulturbudget um 20 Prozent gekürzt haben, gewiss das Subventionswesen "umgekrempelt", gerade dort, wo es Diskursräume betrifft. "Mich animiert das ja, nicht klein beizugeben". Dazu Ruiss: "Wir werden das Feld sicher nicht räumen."

Und so analysieren Thurnher und Ruiss ausführlich und textkritisch die politische Lage, besprechen Österreich im Herbst, die Situation in den Nachbarländern und in der EU. Und lesen aus ihren Büchern, Armin Thurnher seinen eindringlichen Essay über den "Feschismus", Gerhard Ruiss seine knapp-pointierten Kanzlernachfolgegedichte - Literatur und Gesellschaftsbetrachtung, eine besondere, aktuelle Art von Transflair.

Und beide erzählen zum Abschluss die austriakische Anekdote, wie sie, eher widerwillig, vom Bundespräsidenten mit dem Titel "Professor" versehen wurden. Ein Dankeschön an Professor Thurnher und an Professor Ruiss.