Im Gespräch
Debüts und Schreiben als "große Freiheit"
23.1.2020 / Von Klaus Zeyringer
Marko Dinić, Tanja Raich und Barbara Zeman bei Transflair

Die Serie Transflair präsentierte bislang eine große Bandbreite literarischer Verfahren und Vorstellungen, Autorinnen und Autoren aus 20 Ländern. In dieser 70. Folge ging es nun um eine aktuelle Sprachkunst, von der anzunehmen ist, dass sie einen bezeichnenden Vorgeschmack auf künftige Tendenzen zu geben vermag: um Romandebüts von so unterschiedlicher Herkunft und Ausformung wie jene von Tanja Raich, Marko Dinić und Barbara Zeman. Was bedeutet es heute für Dreißigjährige, mit einem Erstling auf den Buchmarkt zu gelangen, welchen Antrieb, welche Erwartungen haben sie, welche literarischen Zugänge und Konzepte? Welche Erfahrungen machen sie, welche Pläne verfolgen sie?

Tanja Raich, geboren in Meran und italienische Staatsbürgerin, lebt wie Marko Dinić und Barbara Zeman in Wien, wo sie das Literaturprogramm eines Verlags leitet. Wie vertragen sich diese beiden Positionen im Betrieb, das Beurteilen und das Schreiben? "Es ist für mich ein ganz natürlicher Prozess", sagt sie, aber sie müsse derart durchaus zwei Persönlichkeiten betreiben. Während die optimale Autorin nichts zu tun habe außer zu schreiben, erreiche sie das meist nur, wenn sie ein Gaststipendium erhalte. "Und die Lektorin Tanja sitzt im Büro - aber manchmal gehen beide auch miteinander kaffeetrinken." Die eine Tanja beeinflusse die andere Tanja jedoch nicht.

"Wie schaltet Lektorin Tanja ab und wird zur Autorin Tanja?", fragt Barbara Zeman. "Eine Lektorin im Kopf?", sagt Marko Dinić. Sie alle, antwortet Raich, seien ja zunächst in Literaturzeitschriften publiziert worden, da gebe es gar keine Lektorin und man müsse ohnehin seine Texte selbst in eine passende Form bringen. Eigentlich habe sie schon eine innere Lektorin, bevor sie den ersten Satz niedergeschrieben habe.

Für ihren ersten Roman Jesolo ist das Lektorat des Blessing-Verlags zuständig. Raich erzählt aus der Ich-Perspektive im knappen Präsensduktus von einer Dreißigjährigen, die sich Fragen über Rollenverhalten und gängige Normen der Mittelschicht stellt. Andrea und Georg fahren jedes Jahr auf Urlaub an die obere Adria, nach Jesolo; die Selbstverständlichkeiten des geregelten Lebens erfahren eine Veränderung, als Andrea schwanger wird. Die Beiden "wirken wie die Fassade eines glücklichen Paares", mit Freunden reden sie nur noch über Bausparverträge, Wohnbauförderung, Kredite und Leasing. Der Roman blickt hinter die Fassade, Jesolo bringt die Verkrustungen einer Gesellschaft nahe, die sich modern gibt und dennoch ein bestimmtes Rollenverhalten übernommen hat. "Eine Frau wird ab einem gewissen Alter ständig mit der Frage nach dem Kinderwunsch konfrontiert und erst als vollständig wahrgenommen, wenn sie ein Kind in die Welt setzt", sagt Tanja Raich.

In eine ganz andere Richtung geht die existenzielle Reise bei Marko Dinić. Deutsch ist nicht seine Muttersprache, Kindheit und Jugend hat er in Belgrad verbracht. Nach der Matura ging er weg, studierte in Salzburg Germanistik und Jüdische Kulturgeschichte. Dort fungierte er als Mitbegründer des Kunstkollektivs "Bureau du Grand Mot". "Wir waren eine Gruppe von vielen verschiedenen Kunstschaffenden in einer Stadt, der zurecht ein spießiger Ruf anhaftet, und haben Festivals organisiert, eine Literaturzeitschrift gegründet, einen kleinen Verlag für Lyrik, die Edition Mosaik", sagt Dinić: "Ich bin also selbst Lektor." Da die Literaturhäuser, wie er meint, "eine etablierte Schiene fahren, wollten wir dem eine junge Literatur entgegensetzen."

In seinem Erstling Die guten Tage setzt er dem Etablierten eine Reise nach Belgrad, in eine Kriegs- sowie Nachkriegsgesellschaft und ihre Rollenverhalten entgegen. Als Dinić beim Bachmann-Preis auftrat, erklärte er: "Jedes Kriegskind lernt Zielstrebigkeit, Abgebrühtheit und Improvisation." Der Roman schildert, wie ein Ich-Erzähler, der in seiner Belgrader Jugend wegen seiner Deutschkenntnisse "Schwabo" genannt wird, mit dem "Gastarbeiterexpress" von Wien zurückfährt, zum Begräbnis der Großmutter. Er beobachtet die Leute im Bus, er gibt sich seinen Erinnerungen hin, die interessanterweise im Präsens stehen, die Erzählgegenwart hingegen in Formen der Vergangenheit. Im Bus - einem Abziehbild des ehemaligen Jugoslawien, extrem patriarchalisch aggressiv - lernt er einen anderen Beobachter kennen. Sie beide, heißt es, seien Chronisten "einer Gesellschaft, die wir beide zutiefst verachteten und gleichzeitig hemmungslos verehrten, der wir unweigerlich angehörten, der wir nicht entkommen konnten". In Belgrad angekommen, steht er abseits der Familie beim Begräbnis, abseits der Stadt und abseits seines früheren Lebens.

Wiederum eine ganz andere Welt lesen wir bei Barbara Zeman. Sie kommt aus Eisenstadt, hat in Wien studiert. Im Interview betont sie, dass sie keine Interviews möge - und keine Museen, was angesichts ihres Romans Immerjahn erstaunt. Denn Immerjahn ist ein Superreicher, der sich selbst "wie ein Tierchen unter Glas" beobachtet. Seine Villa mit all den angehäuften Kunstschätzen will er als Museum der Öffentlichkeit zugänglich machen. Auktorial erzählt Zeman den Ästheten, seine Familiengeschichten, seine Villa von Mies van der Rohe, seine Kunstsammlung. Sie schafft ein literarisches Stillleben, mitunter skurril, eine Poesie des Abschweifens in einer dichten Motivkette (das Sehen und Beobachten, das Feste und das Flüssige...).

Dass sie Museen nicht möge, müsse sie präzisieren, sagt Zeman: "Es ist eher eine Hassliebe", denn sie gehöre zu den Menschen, die sehr schnell reizüberflutet seien. Um den Roman zu schreiben, sei es nicht unbedingt notwendig gewesen, in Museen zu gehen - sie habe sich im Internet Dokumentationen über Künstler zusammengesucht.

Rezensionen nur durch Filter

In ihrem, für Stil und Fabulierkunst hochgelobten Erstling Immerjahn ist die Welt melancholisch, ironisch, bildungsbürgerlich. "Lobend, außer einer Kritik", präzisiert Zeman. Gleich in den ersten drei Wochen nach Publikation des Buches seien viele positive Rezensionen erschienen. Dann aber habe ihr die Pressesprecherin des Verlages mitgeteilt, ein Spiegel-Journalist habe per Twitter erklärt, er hasse den Roman. Sie habe das als Schlag in die Magengrube empfunden, als körperliches Gefühl der Überforderung. Daraufhin habe sie beschlossen, ihren Freund vorzuschicken, um von Rezensionen das Wesentliche zusammenzufassen, aber die Säure wegzulassen: "Das funktioniert hervorragend", sagt Barbara Zeman.

Daraufhin Tanja Raich: Sie lese alles selber, bis zu den Kommentaren der Kommentare, dadurch habe sie das Gefühl, über ihr eigenes Buch bestens informiert zu sein. Negative Rezensionen, insbesondere in einer großen deutschen Zeitung, "das tut schon weh, stellt aber nicht alles infrage". Für seinen Roman, sagt Marko Dinić, fast bedauernd, habe es bislang keine negative Kritik gegeben. "Ich glaub, dass das langfristig gesehen ein Nachteil ist", meint Zeman, denn mit schlechter Kritik lerne man, das alles nicht zu wichtig zu nehmen. "Na ja, schlechte Rezensionen hatte ich schon: schlecht geschriebene", antwortet Dinić. Zudem habe er erneut feststellen müssen, dass die Leute keine Ahnung haben von den Jugoslawienkriegen, die doch vor ihrer Haustüre stattgefunden hatten. Heute seien Literaturkritiken oft kaum mehr als gute Inhaltsangaben.

Lange Sätze aus der Mode gekommen

Wichtig jedenfalls sei ihr die Kritik ihrer Lektorin, sagt Barbara Zeman, damit könne sie arbeiten. Über Immerjahn meinte die Süddeutsche Zeitung, das Buch erfülle "auf angenehme Weise keine der zeitgemäßen Erwartungen in erfolgreiche Romane". Was das denn sein solle, vermöge sie auch als Leiterin eines literarischen Verlagsprogramms nicht nachzuvollziehen, sagt Tanja Raich. Vermutlich sei mit zeitgemäßen Romanen gemeint, dass eher knapp erzählt werde: "Lange Sätze sind aus der Mode gekommen." Deswegen würden sich Literaturkritiker an Werken erfreuen, die eher "anspruchsvolle Wörter verwenden, lange verschachtelte Sätze und ein komplexes Sprachbild aufspannen". Das Kaufpublikum sieht das offenbar meist anders.

Marko Dinić: "Ich kommentiere den Satz der Süddeutschen Zeitung lieber nicht." Und kommentiert dann doch: Es sei Ausdruck eines Wettbewerbs im Literaturbetrieb, "dem wir nicht unterliegen möchten".
"Aber wir stehen im Wettbewerb, ob wir wollen oder nicht", sagt Barbara Zeman, "in einer schülerhaften Rolle wie beim Bachmann-Preis".
Die Rezension und den Satz in der Süddeutschen finde sie indes gut, weil die vielen Absagen, die sie von Verlagen hinnehmen musste, allesamt damit begründet waren, das Buch sei zwar "wunderschön", aber "zu leise" - also zu wenig marktgängig. Nun ist es immerhin schon in der dritten Auflage.

Auch Dinić bekam zunächst viele Absagen. Eineinhalb Jahre habe er gewartet und noch intensiv am Manuskript gearbeitet, nachdem beim Bachmann-Preis über Agenten vierzehn Verlage den Text eingefordert hatten, der aber eben bei weitem noch nicht fertig gewesen sei: "Das waren magere fünfzig ausgekotzte Seiten". Tanja Raich erging es nicht anders. Kurz: Wer publizieren will, braucht Geduld.

Warum sie schreiben? Da Frage stelle sich gar nicht, sagen alle Drei. Und Barbara Zeman fügt hinzu: "Schreiben ist große Freiheit."